Wladimir Putins oberstes Ziel ist es, so lange wie möglich an der Macht zu bleiben. Natürlich geht es ihm auch darum, Russland zu vergangener Größe zurückzuführen beziehungsweise als „Player“ auf Augenhöhe anerkannt zu werden. Aber seine wichtigste Motivation, davon gehen fast alle Beobachter aus, ist es, sein autoritäres Regime so lange wie möglich zu erhalten. Dafür muss er vor allem einen Aufstand der Demokraten verhindern, so wie er in der Ukraine 2013/14 passiert ist und dem Russland Ende 2011 auch schon einmal nahe schien. Das wiederum setzt voraus, dass an Russlands Grenzen keine stabilen Demokratien entstehen. Denn das wäre für die Russen ein schlechtes (weil gutes) Beispiel. Daher die militärischen Interventionen in Georgien und Moldova/Transnistrien, die geschickte Ausnutzung des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan, die Umarmungstaktik gegenüber Belarus und natürlich die andauernde, offene militärische Aggression gegen die Ukraine.
Angriff auf den Westen
Putin bleibt aber, wie wir in den letzten Jahren schmerzhaft gemerkt haben, nicht stehen bei der „Rückeroberung“ einer Interessensphäre. Er hat auch klar erkannt, welche Länder und Organisationen ihm dabei am deutlichsten in die Quere kommen: NATO, Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten – der Westen also. Was für uns die unabdingbare Stabilisierung unserer Nachbarschaft ist, nämlich die Unterstützung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die Modernisierung der Wirtschaft und die Beilegung alter Konflikte, das sieht Putin als Bedrohung seiner Herrschaft. Deswegen versucht er auch mit wachsender Intensität, den Westen zu spalten und seine Strukturen zu schwächen oder sogar zu zerstören.
Instrumente der Einflussnahme
Hierzu bedient er sich aus einem Instrumentenkasten, der seit einigen Jahren gern hybride Kriegführung genannt wird: ein ganzes Arsenal diplomatischer, politischer, wirtschaftlicher, kultureller, informationstechnischer und letztlich (aber nicht immer) auch militärischer Mittel. Dazu zählen natürlich auch Drohungen, besonders mit Atomwaffen, aber noch wichtiger im Arsenal Putins sind seine politischen Einflussinstrumente. Dabei wird die Unterstützung extremistischer politischer Parteien immer wichtiger: Der französische Front National wird ganz unverhohlen von russischen Staatsbanken mitfinanziert. Neonazi-Parteien wie Griechenlands Goldene Morgenröte und Ungarns Jobbik werden materiell und politisch unterstützt. Österreichs Freiheitliche bekommen exklusive politische und geschäftliche Kontakte. Und auch auf der Linken, besonders bei den neuen populistischen Bewegungen in Südeuropa, wie Podemos in Spanien, Fünf Sterne in Italien und Syriza in Griechenland gibt es alte und neue Freundschaftsbeziehungen mit dem Kreml.
Russland finanziert auch – öfter verdeckt als offen – westliche Stiftungen, Think Tanks und andere Institutionen, um kremlfreundliche Positionen zu verbreiten.
Roland Freudenstein
Russland baut auch sein Netz an eigenen kulturellen Institutionen und Forschungsinstituten wie dem „Dialog der Zivilisationen“ in Berlin und Wien aus, die zentral vom Kreml aus gesteuert sind: Das lässt sich leicht an den illustren Namen in den Vorständen ablesen. Russland finanziert auch – öfter verdeckt als offen – westliche Stiftungen, Think Tanks und andere Institutionen, um kremlfreundliche Positionen zu verbreiten.
Relativierung der Wahrheit
Noch wichtiger sind Medien wie Russia Today, die direkt dem Kreml unterstehen und sehr aktive Ableger in den größeren EU-Mitgliedstaaten haben. Ihre Aufgabe ist heute weniger, die „offizielle russische Regierungslinie“ zu verbreiten, sondern vielmehr, das Vertrauen in den Westen und seine demokratischen Institutionen zu schwächen. Das geht am besten durch die Verbreitung von Halbwahrheiten, Verschwörungstheorien und frei erfundenen Geschichten (Fake News), deren Zweck nicht in erster Linie darin liegt, jemanden von der Überlegenheit des russischen Regierungs- und Gesellschaftssystems zu überzeugen, sondern Wahrheit und Rechtsstaatlichkeit zu relativieren.
In den letzten drei Jahren gab es unzählige Beispiele für solche Fake News; das für Deutschland explosivste war der Fall Lisa im Januar 2016, bei dem in russischen Medien, aufbauend auf dem wahren Verschwinden und Wiederauftauchen eines russlanddeutschen Mädchens und dessen widersprüchlichen Aussagen bei der Polizei, eine vollkommen erfundene Verschwörungstheorie über Vergewaltigung durch Migranten entwickelt wurde.
Es geht dem Kreml nicht darum, die Mehrheit der Deutschen zu überzeugen, sondern vielmehr bestimmte Zielgruppen heraus zu greifen und dort eine Alarm- und Anti-Merkel-Stimmung zu erzeugen.
Roland Freudenstein
Drei wichtige Aspekte russischer Informationskriegführung kamen hier zusammen: Erstens die Ausnutzung der Alarmstimmung gegenüber der Migrationswelle von 2015, die gerade in den Tagen nach der Kölner Silvesternacht 2015/2016 in Deutschland einen Höhepunkt erreicht hatte – Fake News über Flüchtlinge sind heute Grundbestandteil russischer Propaganda, was natürlich nicht heißt, dass alle Negativnachrichten über diese Gruppe erfunden sind.
Propaganda für Russlanddeutsche
Zweitens ist die Fokussierung auf eine bestimmte Zielgruppe bezeichnend, hier die Russlanddeutschen, von denen sich immerhin weit über 1000 zu Demonstrationen gegen Angela Merkel und ihre Flüchtlingspolitik überzeugen ließen. Es geht dem Kreml nicht darum, die Mehrheit der Deutschen zu überzeugen, sondern vielmehr bestimmte Zielgruppen heraus zu greifen und dort eine Alarm- und Anti-Merkel-Stimmung zu erzeugen. Drittens schließlich war der Fall Lisa ein gutes Beispiel für das Zusammenwirken russischer Propaganda und Diplomatie: Außenminister Lawrow beschuldigte öffentlich die deutschen Behörden der Vertuschung einer Vergewaltigung – eine Behauptung, die er übrigens nie zurück gezogen hat, und die den damaligen Außenminister Steinmeier zu einem seiner sehr seltenen Wutanfälle gegenüber dem Kreml veranlasste.
Druck auf Kreml-Kritiker
Ein weiteres wichtiges russisches Instrument sind die Trolle – real existierende oder virtuelle Personen, die radikale Meinungen veröffentlichen, prowestliche Erzählweisen in Frage stellen und Kreml-kritische Personen massiv bedrohen. Für solche Posts in sozialen Netzwerken werden Tausende junger Russen und auch EU-Bürger von russischen Organisationen bezahlt – auch diese sind zentral vom Kreml gesteuert.
Ein weiteres und ganz entscheidendes Instrument des Kreml ist der Cyberkrieg, in dem Hackergruppen die entscheidende Rolle spielen, die wiederum klar erkennbar von den Geheimdiensten gesteuert werden. Einen Vorgeschmack davon bekam der Deutsche Bundestag im August 2016, als mutmaßlich russische Hacker in einer groß angelegten Aktion Computer deutscher Politiker ausspähten.
Die Antwort einer freien Gesellschaft
Erstens: Wir müssen den Ernst der Lage erkennen und verstehen, dass es mit Wladimir Putin keine „Rückkehr zur Normalität“ geben kann: Das, was er von uns will, nämlich die Akzeptanz von Gewalt und das Recht des Stärkeren, können wir ihm nicht liefern, ohne uns selbst aufzugeben. Wir können ihn also nur in Schach halten. Diese Grundwahrheit sollte auch in allen Teilen von CDU und CSU akzeptiert werden.
Zweitens: So sehr Putins Angriff auf unsere Werte und Institutionen zentral gesteuert und hierarchisch organisiert ist, so sehr muss unsere Antwort darauf ihren Ursprung in der Offenen Gesellschaft haben. Die Kreml-Strategie ist Ausdruck eines autoritären Systems; unsere Gegenstrategie muss auf Freiheit und Pluralismus aufbauen. Sie muss ausgehen von Parteien, Nichtregierungsorganisationen, freiwilligen Initiativen, privaten und öffentlichen Medien, Forschungsinstituten und Netzwerken von Individuen. Das bedeutet kurzfristig einen Nachteil, denn die russische zentrale Steuerung spart Ressourcen, während die westliche Antwort Doppelarbeit und Reibungsverluste unvermeidbar macht. Langfristig ist dies aber die einzig vorstellbare Antwort, weil nur sie mit unseren Werten im Einklang steht, und auch nachhaltiger ist als der zentralisierte Informationskrieg des Kreml.
Abwehr im Cyberkrieg
Drittens schließlich haben westliche Regierungen und Institutionen wie NATO und EU natürlich eine Rolle zu spielen: Das geht von Cyberverteidigung über kleine, aber feine Einheiten zur Demaskierung von Fake News (für die EU in Brüssel, für die NATO in Riga) bis zur Finanzierung von Projekten, Konferenzen und Literatur zur Information über Putins hybriden Krieg und natürlich zur Aufklärungs- und Abwehrfunktion von Geheimdiensten. Dazu sind staatliche Einrichtungen unabdingbar.
In den vor uns liegenden Wahlkämpfen in Frankreich und Deutschland werden russische Versuche der Einflussnahme mit Sicherheit zunehmen. Wir sollten uns darauf einstellen und alles tun, damit sie erfolglos bleiben.
Roland Freudenstein
ist politischer Direktor des Wilfried Martens Centre for European Studies (Stiftung der Europäischen Volkspartei) in Brüssel. Das Institut hat sich mehrfach intensiv mit der Einflussnahme Moskaus beschäftigt.[spacer style=“1″][clear]