Von Gerhard Gnauck – Mit der Ukraine-Krise begann Putins globale Offensive (Die WELT-N24, 22.11.2017)

Vor vier Jahren fing die Destabilisierung des Landes an. Sie markiert den Anfang einer Reihe von Einflussnahmen aus dem Kreml, die bis zur Wahl Trumps reichen. Das hat auch in Deutschland Spuren hinterlassen.

Vier Jahre ist es her. Vier Jahre, das klingt wie eine runde Wahlperiode, deren Anfang oder Ende manchmal ein Erdbeben mit sich bringt. Im November vor vier Jahren also, kurz nach der damaligen Bundestagswahl, begann in Europa unsere krisenhafte neue Zeit, eine Serie ungewohnter, ganz neuer Ereignisse.

Wie im vorigen Jahrhundert, als ein Attentat in Sarajevo der Auftakt zum Ersten Weltkrieg war, geschah das Ereignis, das 2013 die neue Epoche einläutete, „an den Rändern Europas“, wie man in dessen Mitte gern herablassend sagt.

Vor vier Jahren also unterbrach die Regierung der Ukraine nach jahrelangen und mühsamen Vorbereitungen ihre Annäherung an die Europäische Union. Der unterschriftsreife Vertrag, der eine Assoziierung mit der EU, die Angleichung vieler Standards und ein Freihandelsabkommen vorsah, wurde eine Woche vor der geplanten Unterzeichnung ad acta gelegt.

Der proeuropäische Präsident Viktor Juschtschenko hatte auf dieses Abkommen hingearbeitet; auch sein Nachfolger Viktor Janukowitsch, ursprünglich prorussisch, erkannte schnell, dass das freie Europa ein besseres Ziel ist als die nochmalige Unterordnung unter ein Moskauer Großfürstentum. Die Ukraine hielt auch unter dem Ostukrainer Janukowitsch Kurs auf Europa, drei Jahre lang.

Eskalation der Gewalt

Dann jedoch hat der russische Präsident Putin in jenem Herbst so viel Druck gemacht, Janukowitsch offenbar auch persönlich gedroht, dass er es schaffte, ihn in letzter Minute zu einer Wende um 180 Grad zu bewegen. So etwas gibt es selten in der Diplomatie. Aber das Volk fühlte sich um seine Zukunft betrogen und machte nicht mit.

Die große Mehrheit sympathisierte mit der EU. Auf dem Kiewer Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit, sammelten sich Studenten. Dann wurden es Hunderttausende Bürger, bis der „Euromaidan“ am Ende den Anspruch erhob, Janukowitsch zur Rückkehr auf den versprochenen Kurs zu zwingen – oder zum Rücktritt.

Putin und Janukowitsch hatten es versäumt, das Volk aufzulösen und ein neues zu wählen, wie Brecht in Bezug auf die DDR einmal gedichtet hat. Was folgte? Nach Monaten der Proteste fielen erste tödliche Schüsse auf Demonstranten. Es folgte eine Eskalation der Gewalt.

Dass die Außenminister Polens, Frankreichs und Deutschlands (damals Frank-Walter Steinmeier) im Kugelhagel als Vermittler aufkreuzten, mag dazu beigetragen haben, dass es „nur“ gut 100 Tote wurden. Das Ende der „Revolution der Würde“, wie sie heute genannt wird, war friedlich: Janukowitsch stieg in seiner Residenz in den Hubschrauber und flog nach Russland.

Was damals in Kiew begann, brachte eine Zäsur auch für den deutschen Journalismus. Am Anfang ähnelte das Bild vom Maidan jenem von der Wende in der DDR: „Friedliche Bürger demonstrieren wochenlang“ für ihre (verständlichen) Ziele.

Aber dann kam Gewalt ins Spiel – und mit ihr die Erstaunen weckende Bereitschaft vieler Demonstranten, unter dem europäischen Sternenbanner ihr Leben zu riskieren. Europäische Werte – schön und gut, aber für Werte sein Leben einsetzen? Ohne mich. Dieser Gedanke war den Bundesbürgern fremd. Der Aufstand von 1953 in der DDR lag lange zurück.

Als Gewalt im Spiel war, wackelte auch das deutsche Medienbild: Mit Demonstranten, die zurückschießen, wollte man sich lieber nicht gemein machen. So schaltete man auf Äquidistanz – auch dann, als Russland die Krim annektierte.

Und mehr als das: Allein 2014 gab es 30 deutsche Talkshows zum immer offener ausgetragenen russisch-ukrainischen Konflikt; wie eine Untersuchung gezeigt hat, waren russische Diplomaten und andere „Putin-Versteher“ in diesen Sendungen deutlich überrepräsentiert.

Morddrohungen gegen Journalisten

Das Schlimmste war jedoch, was sich hinter den Kulissen abspielte. Anonyme Beobachter schickten Medienvertretern, die nach ihrem Urteil „zu viel Kritik“ an Putins Vorgehen übten, Morddrohungen.

Übrigens traf es vor allem Journalistinnen; vielleicht hatten die Absender der Drohungen kulturell unterschätzt, wie sehr im Jahre 2014 deutsche Frauen bereit sind, im Beruf „ihren Mann zu stehen“. Vor den betroffenen Kolleginnen in führenden deutschen Medien kann man nur den Hut ziehen.

Eine von ihnen ist Golineh Atai, die für die ARD über den russisch-ukrainischen Konflikt berichtet. Als die in Moskau tätige Korrespondentin Atai in Deutschland zur „Journalistin des Jahres“ gekürt wurde, machte sie öffentlich, welche Spuren die neue Situation in den Medien hinterlassen hat.

Sie habe auch Morddrohungen erhalten, sagte Atai in ihrer auf YouTube zu sehenden Dankesrede (Video hier). Sie habe Angst, durchaus. Aber „eine noch größere Angst“ habe sie, weil Anfeindungen und (echte oder inszenierte) Beschwerden von deutschen Zuschauern bei ihren Kollegen in Sendern und Redaktionen die Schere im Kopf aktivierten.

Programmbeschwerden

Sie könne zum Beispiel nicht mehr über die Opposition in Russland berichten, „ohne in Deutschland Programmbeschwerden zu erhalten“. Programmbeschwerden sind in den öffentlich-rechtlichen Sendern eine lästige, arbeitsintensive Angelegenheit.

Die Angst, sagte Atai, regiere in den deutschen Redaktionen mit. Abschließend die Botschaft der Korrespondentin an die deutschen Medien: „Mein dringender Wunsch an Sie: Haben Sie keine Angst!“ So weit ist es gekommen: Eine Journalistin an gefährlichem Ort muss den deutschen Redaktionen „Fürchtet euch nicht“ zurufen!

Dieses 2013 begonnene Kapitel der Mediengeschichte muss noch geschrieben werden. Einer der vielen Begleiteffekte der Russland-Ukraine-Krise war eine Vertrauenskrise in der deutschen Öffentlichkeit, begleitet von einer beispiellosen Debatte über Berichterstattung, Glaubwürdigkeit, Ausgewogenheit. Neue Phänomene wie Fake News tauchten auf. Nicht ganz so neu (gestern sagte man zumeist „Lüge“ dazu), aber wohl doch neu in Qualität und Quantität.

Bald stellte man außerdem fest, dass in den Onlinekommentarspalten und sozialen Medien sich nicht nur aufrichtige Freunde der Meinungsfreiheit tummeln. Sondern auch Feinde der Freiheit, staatlich organisierte Trolle oder sogar Meinungsmaschinen.

Es war ein finnisches Medium, das mit dem ersten Bericht über eine russische „Trollfabrik“ in St. Petersburg den Durchbruch brachte. Es verging sträflich viel Zeit, bis – nach der ersten Warnung seitens der betroffenen Abgeordneten Marieluise Beck – auch ein Cyberangriff auf den gesamten Bundestag festgestellt und bekämpft wurde.

Dass anschließend die Öffentlichkeit ein Jahr lang darauf vorbereitet wurde, dass es bei der Bundestagswahl russische Einwirkung geben könne, ist einer der Lichtblicke in dieser Landschaft.

Bergwanderer wissen: Wenn man oft und laut genug ruft, kommt der Bär nicht aus dem Wald, denn er scheut das Licht der Öffentlichkeit. Vermutlich ist es eines der großen Verdienste Angela Merkels, hinter den Kulissen die Abwehr dieser Gefahr orchestriert zu haben.

Ratlose Bundesregierung

So wie es 2014 eine große Entscheidung des Friedensnobelpreisträgers Obama war, die Nato an ihrer Ostflanke, wo sie trotz dringender Bitten jahrelang Untätigkeit gezeigt hatte, mit ein paar Tausend Soldaten zu verstärken. Zumindest die Geschichtsbücher werden diese Entscheidungen würdigen.

Damit sind wir noch nicht am Ende des Krisenbogens dieser Jahre. Von Herbst 2015 bis Herbst 2016 kamen drei Ereignisse mit neuer Schockwirkung hinzu. Die Grenzöffnung durch eine ratlose Bundesregierung (es war eine große Koalition) trug die Migrationskrise nach Deutschland hinein. Im Sommer 2016 die knappe Brexit-Entscheidung. Zum Jahresende dann die Wahl des schwer einzuschätzenden Populisten Donald Trump.

Letztere – und da schließt sich der Kreis zum Kiewer Maidan von 2013 – ist mit „Beihilfe“ aus Russland erfolgt, auch wenn deren Reichweite und Auswirkung derzeit noch untersucht wird. Dass Trumps Wahlkampfchef Manafort über ein paar Zettel aus Kiew stolpert, auf denen die ihm zustehenden Schwarzgeldhonorare in Millionenhöhe von Janukowitsch aufgelistet wurden – geht es noch symbolischer?

Die Freiheit des Westens wird auch von den Kiewer Journalisten verteidigt, die die Manafort-Honorare offengelegt haben. Wenn sich am Freitag die EU-Regierungschefs in Brüssel zum Gipfel der Östlichen Partnerschaft treffen, sollten sie das im Auge behalten.


Von Gerhard Gnauck – Mit der Ukraine-Krise begann Putins globale Offensive (Die WELT-N24, 22.11.2017)