Während seiner Marathon-Pressekonferenz am 10. Oktober sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, dass der Krieg im Donbas wegen der Sprachfrage begann (Video ab 02:15) und wiederholte damit eine der fest verwurzeltesten Propagandadarstellungen des Kremls, d.h. russischsprachige Donbas-Bewohner wurden gezwungen, Ukrainisch zu sprechen, und deshalb begannen sie zu rebellieren. Die Realität sieht aber völlig anders.
Die Kreml-Medien nutzen eine Reihe spezifischer Narrative, um ihrem Heimatpublikum und ihrem internationalen Publikum zu erzählen, was in der Ukraine geschieht, insbesondere in der ostukrainischen Donbas-Region. Die Hauptthese ist, dass sich die Ostukraine im Krieg mit den Kiewer Behörden befindet. Das dies ein Bürgerkrieg ist und Russland damit nichts zu tun hat. Einer der Gründe für den Ausbruch dieses Bürgerkriegs ist laut dem Kreml-Narrativ die Sprachenfrage. Wenn man dies als einen der Gründe für den Konflikt akzeptiert, dann akzeptiert man die anderen Aspekte der Erzählung, dass der Krieg in der Ostukraine ein Bürgerkrieg ist und verschließt damit die Augen vor der russischen Rolle in diesem Konflikt.
„Am 23. Februar 2014 wurden die Russischsprecher im Donbas, die seit langem das Recht gesucht hatte, Russisch auf legislativer Ebene zu sprechen, von der Hauptstadt des Maidan bespuckt und das Gesetz über den Status der russischen Sprache wurde aufgehoben. Dies geschah unmittelbar nach dem Regierungswechsel in der Ukraine“, schreibt die pro-Kreml Webseite Ukraina.ru.
Vojennoje Obozrenje, oder Military Review, eine Publikation, deren Webseite-Adresse topwar.ru lautet, erklärt, dass der Konflikt im Donbas nicht um „Verfassungen, Sonderstatus usw.“ geht. „Das Problem ist der chronische Hass auf die [Kiewer] Hunta und all die Neonazis, die alle Bewohner von Donbas hassen. Und höchstwahrscheinlich manifestiert sich dieser primitive Hass, weil die Menschen im Donbas Russisch sprechen.“
Die Seite des russischen Verteidigungsministeriums Swesda behauptet, dass die Ostukraine gewaltsam ukrainisiert wird. „Sie zwingen Sloviansk (eine Stadt im Osten der Ukraine) zu einer Sprache. Ein ehemaliger ukrainischer Abgeordneter kündigt die erzwungene Entlausung der Stadt an“, resümiert Swesda.
Am 6. April 2014 brachen die Teilnehmer einer russischen separatistischen Kundgebung in Donezk in die regionalen staatlichen Verwaltungsbüros ein. Bald darauf kam es in Luhansk zu ähnlichen gewaltsamen Gebäudeergreifungen. Der Zusammenstoß der SBU, der ukrainischen Sicherheitsdienstkräfte mit dem russischen Militär gilt als Beginn des Krieges. An diesem Tag, dem 12. April 2014, beschlagnahmten die sogenannten kleinen grünen Männer die lokale Polizeistation in Sloviansk. SBU-Kapitän Henadij Bilichenko starb in diesem Kampf. Es wurde deutlich, dass die Sicherheitskräfte nicht ausreichen, um mit dieser sich ausbreitenden Gewaltsituation fertig zu werden; die Ukraine musste schnell eine Armee aufstellen.
Später wurde klar, dass die kleinen grünen Männer eigentlich russische Spezialeinheiten unter dem Kommando von Igor Girkin (Strelkov) waren, die alle zuvor an der Krim-Besetzung mit Tarnkleidung ohne identifizierende Abzeichen teilgenommen hatten.
Eine Stellungnahme des ukrainischen Außenministeriums mit dem Titel 10 Fakten über die russische bewaffnete Aggression gegen die Ukraine stellt fest, dass die nächste Phase der russischen Aggression ein Versuch war, die Situation in den östlichen und südlichen Regionen der Ukraine zu destabilisieren, mit dem Ziel, einen Quasi-Staat namens Neurussland in diesem Gebiet zu schaffen. Der russische Präsident Wladimir Putin sprach am 17. April 2014 im russischen Fernsehen offen über diese Pläne. Diese Pläne wurden vereitelt, aber das russische Militär, die offizielle Armee und die von Russland geführten Soldatengruppen besetzten Gebiete der Regionen Donezk und Luhansk.
Wir fassen zusammen – es geht nicht um oder über Sprache, sondern um einen Angriff Russlands auf einen Nachbarn mit dem Ziel, sein Territorium abzutrennen, der ihm das Recht nimmt, seinen unabhängigen politischen Kurs zu verfolgen, und ihn destabilisiert.