Von Boas Ruh – Desinformationen im Wahlkampf Sie haben Fake-News den Krieg erklärt (5.8.2017, NZZ)


Fake-News würden die Grundwerte des Journalismus angreifen, warnten Journalisten vor den Wahlen in Frankreich und Grossbritannien. Deshalb haben sie sich verbündet.

Es rumort in der Medienwelt. Spätestens seit der amerikanischen Präsidentenwahl verbreitet sich die Sorge, dass Fake-News Wahlen beeinflussen, dass sich Desinformationen über soziale Netzwerke in Windeseile verbreiten, dass Gerüchte, Falschinformationen und Manipulationen ein grösseres Publikum als je zuvor erreichen.

Während sich in Deutschland verschiedene Organisationen für den Umgang mit Desinformationen während des Wahlkampfs rüsten, haben andere Länder Europas bereits gewählt. In Frankreich und Grossbritannien war die Sprache martialisch: Von einem Informationskrieg war im Vorfeld des Urnengangs die Rede. Einige Redaktionen gaben sich nicht mit grossen Worten zufrieden, sondern ergriffen Massnahmen.

Ein Mittwochabend, 19 Uhr 30 Londoner Zeit, in der City of Westminster, nur wenige Meter entfernt vom Buckingham-Palast. Etwa 15 Personen sitzen im Grossraumbüro – für sie gilt es jetzt ernst. Die Wahlen in Grossbritannien, sechs Wochen zuvor von Theresa May angekündigt, sind noch acht Tage entfernt. Über die Bildschirme des Landes flimmert die Wahldebatte der BBC, direkt aus der Universität Cambridge. Was auch immer die Politiker des Landes jetzt sagen: Die 15 Personen im Grossraumbüro im Westen Londons legen jede Aussage auf die Waage, überprüfen Zahlen zu Budget, Arbeitslosen und Einwanderern.

Die 15 Personen arbeiten für Full Fact, eine unabhängige Fact-Checking-Organisation. Ihre Aufgabe ist es, Wahres von Unwahrem und Mutmassungen von Fakten zu trennen. Full Fact überprüft – in Zusammenarbeit mit Regierungsstellen und Forschungsanstalten – nicht nur Medienberichte und Aussagen von Politikern, die Organisation fordert auch Richtigstellungen ein. Boulevardzeitungen wie «Daily Mail» oder «The Sun», aber auch die seriöse BBC mussten auf Druck von Full Fact schon Korrekturen abdrucken. Auch der damalige Premierminister David Cameron hat nach einer Überprüfung durch Full Fact Fehler eingestanden. «Full Fact ist ein typisches Beispiel einer unabhängigen, auf Fact-Checking fokussierten Organisation», beschreibt das Reuters Institute an der Oxford University die Prüfer aus London.

Faktenchecks in Echtzeit

An diesem Mittwochabend hat die Debatte in Cambridge Fahrt aufgenommen. Einige Behauptungen hat das Team bereits überprüft, die meisten waren korrekt, andere waren irreführend. Als sich Ukip-Chef Paul Nuttall ereifert, Grossbritannien investiere jeden Tag 30 Millionen Pfund in die Entwicklungshilfe, informiert das Full-Fact-Team via Twitter: Ja, es stimme, Grossbritannien gebe 12,1 Milliarden Pfund pro Jahr für die Entwicklungshilfe aus, was aber genau 0,7 Prozent des BIP entspreche – eine seit 1970 geltende Zielvorgabe der Uno für die Entwicklungshilfe.

In den fünfzig Tagen von der überraschenden Ankündigung von Neuwahlen bis zum Wahltermin am 8. Juni 2017 hat Full Fact rund einhundert Faktenchecks und Explainers veröffentlicht. Zusätzlich zur BBC-Übertragung aus Cambridge haben die Faktenprüfer sechs weitere Fernsehdebatten live begleitet. Die Ergebnisse der Checks hat Full Fact auch auf Facebook veröffentlicht, wo laut einem Blogpost der Organisation 18,5 Millionen Menschen erreicht wurden. Das Netzwerk der im Jahr 2010 gegründeten Organisation ist beeindruckend. Full Fact ist breit abgestützt: im politischen System Grossbritanniens, in der Medienlandschaft und auch international. Full Fact ist Mitglied im Fact-Checking Network des amerikanischen Medieninstituts Poynter. Für die britische Unterhauswahl hat Full Fact erstmals mit dem aus den USA stammenden Netzwerk First Draft zusammengearbeitet.

Mitten im Informationskrieg

Beim First-Draft-Netzwerk haben sich Redaktionen, Internet-Unternehmen und Menschenrechtsorganisationen zusammengeschlossen. Das Netzwerk will im Internet Inhalte wie Videos von Augenzeugen finden und prüfen. First Draft hat sich viel Kompetenz im Bereich der Verifizierung angeeignet. Dem Netzwerk angeschlossen sind BBC, al-Jazeera und «New York Times», aber auch Facebook und Google oder Amnesty International. Claire Wardle ist Direktorin von First Draft. Sie sieht sich mitten in einem «Informationskrieg». Gezielte Falschmeldungen würden sich im Internet wie ein Lauffeuer verbreiten. «Wir müssen aufwachen und die Schwere dieser Entwicklung erkennen», meinte Wardle an einem Journalismuskongress Anfang Jahr warnend.

Unterstützung erhält Wardle in ihrer Einschätzung von der Informationsdirektorin der französischen Nachrichtenagentur AFP, Michèle Léridon. Vor den Wahlen in Frankreich sagte sie im Hinblick auf Desinformationen und Manipulationen: «Die Grundwerte unseres Berufs werden angegriffen. Wir müssen uns gemeinsam zur Wehr setzen.» Im Februar 2017, drei Monate vor den französischen Wahlen, hat sich die AFP deshalb einer Initiative von First Draft und Google angeschlossen. Projektname: «CrossCheck». Erklärtes Ziel war es, gegen Gerüchte anzukämpfen, den Wählerinnen und Wählern in Frankreich verifizierte Informationen bereitzustellen, damit diese ihre Wahl mit dem besten Wissen durchführen können. Zehn Wochen vor dem Wahltag ging es los: Die AFP hatte die redaktionelle Leitung inne, drei Journalistenschulen und 36 weitere Redaktionen waren dabei, darunter «Le Monde», «Libération», France 24 und Buzzfeed.

Zusätzlich zur Überwachung der sozialen Netzwerke durch «CrossCheck» konnten auch Nutzer ihre Fragen einreichen. 584 Fragen sind so eingegangen. Auf der Projekt-Website sind bis zur Wahl 65 Fragen und Gerüchte ausführlich bearbeitet worden. Mindestens zwei verschiedene Redaktionen müssen dabei die Geschichte überprüft haben, bevor AFP den Bericht redigiert und online stellt. In der Regel haben sich aber jeweils mindestens vier Partner an der Recherche beteiligt, manchmal auch bis zu elf.

Jede überprüfte Meldung wurde in eine Kategorie eingeteilt: wahr, fragwürdig oder falsch. Wenn eine Meldung als unwahr klassifiziert wurde, gab es eine weitere Unterteilung zur Art der Des- oder Fehlinformation.

  • Erfundene Inhalte: Wenn Inhalte überwiegend falsch sind und erstellt werden, um zu täuschen oder Schaden zu verursachen.
  • «Hochstaplerische» Inhalte: Wenn eine echte Quelle imitiert wird.
  • Irreführende Inhalte: Wenn echte Informationen auf irreführende Weise verwendet werden, um einem Thema oder einer Person etwas anzuhängen.
  • Falscher Kontext: Wenn echte Inhalte in einen falschen Kontext gestellt werden.
  • Manipulierte Inhalte: Wenn echte Inhalte auf eine täuschende Art überarbeitet werden.
  • Falsche Verknüpfungen: Wenn Überschriften, visuelle Inhalte oder Bildunterschriften nicht mit dem Inhalt übereinstimmen.
  • Satire oder Parodie: Inhalte wurden nicht erstellt, um Schaden zu verursachen, können aber irreführend sein.

Manchmal kam man zu keinem eindeutigen Ergebnis. Deshalb gab es auch die Kategorien «es ist Vorsicht geboten» und «ergebnislos».

Geld von Google

Die Finanzierung von First Draft, wie auch von Full Fact, ist divers. First Draft wird vom Google-Mutterkonzern Alphabet unterstützt. Das Google News Lab war ein Gründungspartner. Auch das «CrossCheck»-Projekt wurde von Google finanziert. Full Fact wiederum ist überwiegend spendenfinanziert. Die britische Organisation wird laut Eigenangabe von der Stadt London, dem Getränkeunternehmen Diageo und Rolls-Royce, aber auch vom Centre for European Legal Studies der Universität Cambridge unterstützt. First Draft hat auch schon Crowdfunding-Kampagnen erfolgreich durchgeführt.

Was hat nun der ganze Aufwand vor den Wahlen in Frankreich und Grossbritannien gebracht? Ganz eingedämmt wurden die Fake-News nicht. Ein solches Ziel wäre unerreichbar. Doch dazugelernt haben die Organisatoren – wie sich Fake-News verbreiten und wie damit umgegangen werden soll.

Eine Erkenntnis ist, dass Desinformation in verschiedenen Gestalten daherkommt – nicht nur als klassische Fake-News. «Wir müssen uns vermehrt Gedanken zu Memes machen», schreibt First Draft. Denn am effektivsten würden Fehlinformationen mit solchen humorvollen Bild-Text-Kombinationen gestreut. Eine weitere Quelle für Fehlinformationen sind parteiische Websites, die ausschliesslich Meldungen über ihre bevorzugte Partei veröffentlichen und ausserdem Nachrichten stark mit Meinungen vermischen. First Draft bezeichnet diese Websites als «hyper-partisan».

Zusätzlich zu den klassischen Medien sollten Faktenchecker Online-Konversationen besonders genau überwachen – und zwar in Echtzeit. Beim Frankreich-Projekt nutzte das Team dazu Suchalgorithmen auf Twitter und ein Facebook-Tool namens «CrowdTangle», mit dem soziale Netzwerke nach relevantem Inhalt durchsucht werden können.

Dass den sozialen Netzwerken eine so grosse Rolle zukam, begründet Full Fact damit, dass viele Menschen über diese Kanäle Nachrichten konsumieren: «Terrorattacken haben die Wahlkampagnen pausieren lassen, doch das Internet hat nie geruht.» Dabei sei die Frage zentral, was überhaupt verifiziert oder überprüft werden soll. Wenn Artikel oder Memes zu früh aufgegriffen würden, würde das den Fake-News-Verbreitern nur unnötige Publizität bescheren. «Diese Entscheidung zu treffen, hat uns jeden Tag herausgefordert», schreiben die Faktenchecker. So kam es, dass manchmal zwar Fake-News entdeckt wurden, das Team aber dennoch nicht darauf eingegangen ist.


Von Boas Ruh – Desinformationen im Wahlkampf Sie haben Fake-News den Krieg erklärt (5.8.2017, NZZ)