Evgeny Zavadskiy weiß, wie die russische Informationspolitik von innen funktioniert. Er arbeitete sechs Jahre als Journalist für den russischen Sender „Perviy Kanal“, für die Nachrichtensendung „Programma , Vremia‘ “. Diese Zeit umfasst auch die beiden „heißesten“ und aggressivsten Jahre der Informationskonfrontation mit der Ukraine: Nach den Ereignissen auf dem Maidan, der Annexion der Krim sowie während der aktivsten Phase des Krieges im Donbas. Ende 2015 verließ er den „Perviy Kanal“ und zog Tallinn, wo er seit zwei Jahren für den estnischen russischsprachigen Fernsehsender ETV+ arbeitet. Mit Evgeny Zavadskiy haben wir auf einer Konferenz in der litauischen Hauptstadt Vilnius gesprochen. Er stimmt sofort einem Interview zu und verspricht, alles zu erzählen, was er kann. Er gibt offen zu: Solch ein Interview – über die „innere Küche“ des führenden russischen TV-Senders, über seine Informationsstrategie gegenüber der Ukraine – hat noch niemand mit ihm geführt.
Galyna Schimansky-Geier: Evgeny, Sie haben seit 2009 für den „Perviy Kanal“ gearbeitet. Wann haben Sie zuerst Veränderungen in der Berichterstattung über die Ukraine bemerkt?
Evgeny Zavadskiy: Mit dem Beginn der ersten Unruhen in Kiew auf dem Maidan. Die erste große Menschenmenge auf der Straße – dies war meiner Meinung nach, als die Protestierenden versuchten, das Büro des Kiewer Bürgermeisters zu stürmen. In diesem ersten Gedränge gab es in der Tat, Korrespondenten von „Perviy“. Sie versuchten zu erzählen, wer wohin kriecht und warum er dies tut. Grob gesagt, entwickelten sich weitere Ereignisse nach dem Vorbild der ersten ukrainischen Revolution – der orangen Revolution.
G.S-G: Gab es irgendeine Art von Informationsvorbereitung für die Ereignisse des Maidans oder für eine mögliche zukünftige Konfrontation mit der Ukraine?
E.Z.: Solche eine Vorbereitung sollte sein! Aber das ist eine Vorbereitung, die, grob gesagt, in den Stäben geschrieben wurde. Solche Schemata liegen bereits erfunden und schon ausgearbeitet vor. Die russische Propaganda hat nichts Neues gezeigt. Das sind sehr leicht verständliche, sehr einfache und sehr dumme Schemata. Wir haben nicht den Zuschauer, für den wir etwas anderes erfinden müssen, komplexer arbeiten müssen.
Wie war die Ukraine denn in der Vorstellung des „Perviy Kanal“? Wir reden jetzt nicht einmal über Gaskriege oder Versuche, die Macht im Land komplett zu verändern. Es [Die Ukraine, Anm. StopFake] war so ein sehr süßer, lustiger Flecken Erde, verarmt, lächerlich sprechend, mit sehr lächerlichen Problemen, über die man ironisieren sollte. Man sollte über ihn lachen und ihn wirklich, als einen jüngeren Bruder, als einen Narren wahrnehmen. Es war ein solcher „Ivanushka-Duratschok“ [Klassische russische Folkloregestalt für einen einfältigen, dummen Landmenschen, weitere Erklärung im Link, Anm. StopFake] , nur nicht Ivanushka, sondern, sagen wir, Mykola*[Beispiel für typischen ukrainischen Namen, Anm. StopFake]. Unsere Berichte waren meistens darüber. In der Zeit, wenn es nötig war – wenn es möglich war, sagen wir so – haben wir über Korruption in der Ukraine berichtet.
Erstens, haben wir solche Geschichten gezeigt: Schauen Sie mal, wie wild alles in der Ukraine doch ist, und wie gut Sie hier doch in Russland leben. Zweitens: Es wurde über kleine, schreckliche, ukrainische Alltagsprobleme berichtet, die immer wieder wegen Korruption und wegen fiktiven, von Journalisten ausgedachten ukrainischen Dummheiten passieren. Das Bild der Ukraine war sehr albern, nett, nur mit einer nominalen Unabhängigkeit: Ja, sie haben da eigenen Präsident. Ja, es scheint so, dass sie da auch eine Verfassung haben. Ja, sie wollen scheinbar für sich selbst entscheiden, aber in Wirklichkeit [so der Tenor vom „Perviy Kanal“, Anm. StopFake] – ist das alles Unsinn. Wir [Russen, Anm. StopFake] fahren alle dorthin, wir haben alle da Verwandte. Wie können wir die Ukraine also als Ausland betrachten? Die Ukraine ist kein Ausland. Es ist einfach so passiert, dass sie scheinbar unabhängig ist. Die Einstellung war so.
G.S-G: Dann nach dem Beginn des Maidans, gab es da einen Moment der Überraschung oder sogar des Schocks, dass dieser „dumme kleine Bruder“ zu einem massiven Protest und sogar zur Unterstützung der europäischen Werte fähig ist? Seit wann begann der Fernsehsender, die Demonstrationen zum Beispiel als Versammlung von Faschisten und Radikalen darzustellen?
E.Z.: Es war alles zusammen. Auf der einen Seite die, die nicht wie Faschisten aussahen, wurden nicht als Faschisten vorgestellt. Zum Beispiel, war Jazenjuk [ehemaliger ukr. Ministerpräsident, Anm. StopFake] mit seinem intellektuellen Aussehen den Faschisten nicht sehr ähnlich, oder? Er trägt eine Brille, er ist dünn, nun, wie kann er da ein Faschist sein? Die Zuschauer werden daran nicht glauben. „Faschisten“ waren junge Leute, die Masken mit entsprechenden Symbolen trugen und entsprechenden Waffen hatten. Sie wissen selber, dass es viele verschiedene Organisationen gab, diejenigen, die dafür passend aussahen: (lächelt ironisch) in schwarzer schrecklicher Kleidung und so weiter, – es war doch klar, wer die sind. Wir haben da nicht sehr tief recherchiert und umso mehr handelten sie aktiv und mit Gewalt. Mit ihnen war alles einfach. Aber mit Politikern, die nicht so provokativ aussahen, wurde natürlich gesagt, dass sie eigene Interessen mit dem Westen haben, dass es sich um Geld dreht und alles nicht nur so einfach und klar ist; dass dies eine weitere Runde der Korruption ist, vielleicht nach dem moldauischen Muster. Es wurde gesagt, dass diese Menschen nicht im Interesse der Ukraine handeln, nicht im Interesse der gewöhnlichen Ukrainer und deshalb nicht im Interesse der Russen.
G.S-G: Hatten Sie eine Checkliste oder eine Anleitung dazu, was man sagen dürfte und was nicht?
E.Z.: Es gab kein Dokument. Aber es ist verständlich, dass es eine Differenzierung gab und dass dies bei der Korrektur von Texten der Korrespondenten berücksichtigt wurde. Nicht dass es korrigiert wurde – es gab nur wenige Journalisten, die so geschrieben haben. Zum Beispiel, niemand hat „in der Ukraine“ geschrieben. Im Prinzip niemand. Einmal versuchte ich selbst [es in einen Text zu schreiben, Anm. StopFake], weil ich mich hingesetzt habe und gedacht habe: Wie wäre es eigentlich richtig? Ich habe mich entschieden, „in der Ukraine“ (Video zur russischer Talkshow, in der der bekannte Moderator Vladimir Solovjev die Ex-Oppositionspolitikerin Irina Chakamada ständig unterbricht, als diese in der Fernsehsendung versucht live „in der Ukraine“ zu sagen, und er sie fortwährend unterbricht und will, dass Sie „auf der Ukraine“ sagt) zu schreiben – was wird der Chefredakteur darüber sagen? Infolgedessen sprang der Chefredakteur wortwörtlich an die Decke und hatte Angst vor allem auf der Welt. Also hatten wir wohl eine öffentlich-geheime, nicht direkte ausgesprochene Regel, dass man immer „auf der Ukraine“ („на Украине“) sagen sollte.
G.S-G: Das heißt, selbst in solchen Details war die Redaktionspolitik beim Kanal so streng?
E.Z.: Ja. Sie sollten verstehen, dass ideologische Gegner begonnen haben, „in der Ukraine“ zu sagen. Das heißt, dass sind die Menschen, über die man schlecht reden musste. Dementsprechend mussten wir uns von ihnen trennen, uns abgrenzen. Im Prinzip klingt diese Norm nicht ungewöhnlich für die Ohren vieler Russen, und auch nicht unbedingt für sehr viele Bewohner des Donbas. Warum habe ich jetzt Donbas erwähnt? Mein Onkel ist Bergarbeiter, er arbeitete fünfzehn Jahre lang in einem Methanbergwerk und er lebt im Lugansker Gebiet. Er, Großvater und Großmutter haben ihr ganzes Leben lang „auf der Ukraine“ gesagt. Aber der Onkel ist immer noch glücklich und froh, dass er auf dem ukrainischen Territorium geblieben ist, dass er nicht den Banditen [den Speratisten, Anm.] gehört, dass er eine [ukrainische, Anm.] Rente bezahlt bekommt. Wir verstehen alle, dass dies eine Gewohnheit der Sprache ist, die keine politischen Präferenzen widerspiegelt.
Und doch: Die Aussage „Annexion der Krim“ wurde verboten. Darüber wurde natürlich auf verschiedenen Ebenen gesprochen. Das Wort „Annexion“ könnte nur von einer Person verwendet werden, den der Zuschauer von Anfang an nicht glauben sollte. Nur ein dämonenhafter Schurke, ein Mann mit einem Dreizack und mit einem Menschenkopf in den Händen konnte „Annexion“ sagen. Und es war auch nicht einmal möglich, das Wort „Anschluss“ („присоединение“) zu verwenden. Das Wort wurde durchgestrichen, Redakteure haben dafür sehr grob geflucht und geschrien. Für das Wort „Anschluss“ könnten Journalisten sogar eine Strafe bekommen oder Teil ihres Gehalts verlieren.
G.S-G: Dürfte man dann nur das Wort „Wiedervereinigung“ verwenden?
E.Z.: „Wiedervereinigung“ und alle schönen Synonyme. Und es gibt noch mehrere Beispiele der Verwendung von Sprache. Es ist klar, dass die Leute [die für die sogenannte „DNR/LNR“ kämpften, Anm.] immer „Milizsoldaten» („ополченцы“), „Verteidiger“ oder „Krieger“ sind. All dieses positive Vokabular wurde dafür genutzt, wie im sowjetischen Witz, dass „sie alle Spione haben, aber wir haben Aufklärer“.
Die [aus der Geschichte mit negativer Konnotation verbundenen, Anm.] Wörter „Hunta“, „Karateli“ und andere wurden reanimiert und wiederverwendet. „Karateli“ ist verständlich, weil es eine Assoziation mit Nazis, und mit den Texten über den Zweiten Weltkrieg geben würde. Wir wurden ermutigt, solchen Formulierungen zu nutzen. Aber solche Begriffe wie „Faschisten“ und „Banderovtsy“ wurden aus den Kommentaren von einfachen Menschen aufgenommen. Wenn wir zusammenfassen, sind die Hauptmomente: „in der Ukraine“/ „auf der Ukraine“, Worte mit positiver Semantik gegenüber Terroristen, mit negativer Semantik gegenüber der ukrainischen Armee, insbesondere über den „Rechten Sektor“ und den Freiwilligenbataillonen – sie fielen zuerst in die Kategorie „Karateli“ und „Söldner“, was im Prinzip auch der Fall war. Aber Krieg ist Krieg.
Dies war der 1.Teil des Interviews mit Evgeny Zavadskiy, der zweite Teil des Interviews folgt in den nächsten Tagen.